Ein erster Überblick/Leitfaden für Hundebesitzer. *
Wenn der Hund an den Hinterbeinen gelähmt ist, bricht für die Besitzer eine Welt zusammen. Sie denken an Rollis, an Euthanasie und sind meist noch vor dem 1. Tierarztbesuch nervlich total am Ende. Verständlich! Wenn einem gesunden, sonst aktiven und lebenslustigen Hund plötzlich die Lebensgrundlage - seine Aktivität- genommen wird .... ist sein Leben dann noch lebenswert ?
Stopp! Diese Frage ist erstmal zurückzustellen. Auch wenn es in so einem Moment sehr schwer ist, muss man Ruhe bewahren. Vielleicht wäre es ratsam sich eine ruhige Begleitperson für die Tierarztbesuche zu organisieren, wenn man selber sonst einfach zu emotional und durcheinander ist. Achtung! Selbstverständlich bleibt es ein Notfall!
Die Ursachen für Lähmungen sind nicht immer sofort zu erkennen. Manchmal z.B. fällt der Hund beim normalen Gassigang einfach um, wacht bereits gelähmt aus dem Körbchen auf, oder die Lähmung beginnt an einem Bein und betrifft innerhalb kürzester Zeit beide Hinterbeine. Natürlich gibt es auch Lähmungen durch Traumen wie z.B. Autounfall oder Sturz aus großer Höhe. Teils haben die Hunde schreckliche Schmerzen.
Bevor man sich überlegen kann wie es weitergeht, muss man die Ursache für die Lähmung finden (auch bei einem Trauma: ist die Wirbelsäule gebrochen, gibt es Einblutungen oder Schwellungen). Die häufigste Ursache für Lähmungen sind bei Hunden Bandscheibenvorfälle und bei Katzen Autounfälle und Kippfenstersyndrom (Katze bleibt im Spalt eines gekippten Fensters stecken).
Ist die Ursache gefunden z.B. ein Bandscheibenvorfall - wird der Tierarzt / Tierneurologe entweder zur Operation oder zu einer anderen Therapie raten.
Meist erreichen mich an dieser Stelle dann die Anrufe von den Besitzern.
Die wichtigsten Punkte bei gelähmten Hunden:
1.) die Blase
Funktioniert die Blase?
Mein Hund ist gelähmt und verliert alles was ihm lieb ist und hat vielleicht sogar große Schmerzen - und die Therapeutin fragt mich tatsächlich nach Pipi?? Geht`s noch?
Ja, denn eine Lähmung der Hinterbeine betrifft (meist) auch die Blase und kann tödlich enden!
Bei allen Punkten besteht Lebensgefahr!
Bei allen Punkten kann Resturin in der Blase verbleiben oder es kann zu einem Rückstau in die Nieren kommen => Mögliche Folgen: Entzündung / Vergiftung / Nierenversagen!
Es ist dringend nötig die Blase und ihre Funktion im Auge zu behalten - viele Tierärzte und Hundephysiotherapeuten sind auch im manuellen Entleeren der Blase ausgebildet und können den Hundebesitzer einweisen.
2.) Die Mobilität muss her - SOFORT !
Auch das ist total verständlich. Man sieht seinen Hund mit traurigen Augen im Körbchen, er möchte gerne aber kann nicht. Immer wieder dreht er sich vielleicht um und scheint zu seinem Hinterteil zu sagen: "Mensch, was hält mich da hinten fest, ich war doch sonst schneller." Nun wird eine Suchmaschine befragt und ein Rolli oder ein Tragegeschirr für gemeinsame Ausflüge entdeckt. Man sieht Videos von glücklichen Hunden die mobil durch die Natur flitzen - sieht dann seinen Hund an -traurige Augen, extrem traurige Augen- und der Entschluss steht fest: Mein Hund soll mobil werden und soll sein Leben und seine glücklichen Hundeaugen zurückbekommen.
Stopp!!! Bitte auf GAR KEINEN FALL !!
Die Verletzung der Wirbelsäule muss heilen! Der Hund hat unter Umständen große Schmerzen (auch wenn er nicht schreit!). Bitte unbedingt unterlassen! Bitte kauft oder leiht nicht schon in den ersten Tagen einen Rolli oder ein Tragegeschirr!
Im Normalfall verordnet der Tierarzt Ruhe - mal mehr mal weniger. Je nachdem ob der Hund operiert wurde oder nicht und um welche Verletzung es sich handelt.
Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass die Muskulatur und die Gelenke durch die Lähmung dauerhaften Schaden nehmen können, wenn sie nicht bewegt werden. Daher kann ständige Ruhe auch nicht sinnvoll sein.
Was denn nun?
Die Wirbelsäule muss an der Stelle der Verletzung (bis zur Heilung) dringend bei Übungen unterlagert werden (entweder mit einem Arm, einer Hand oder einer Handtuchrolle) . Oft geben Tierkliniken nach Operationen einen Behandlungsplan mit Übungen mit - oder der Tierarzt oder Physiotherapeut erstellt einen geeigneten Plan. Bei einem Rolli oder einem Tragegurt gelangt einfach zu viel Bewegung auf die Wirbelsäule.
Ansonsten hat sich zwischen den Übungen einfach Ruhe bewährt.
Beispiel: Bandscheibenvorfall bei einem Dackel
Nachdem der Besitzerin von mehreren Seiten geraten wurde einen Rolli zu bestellen, entstand dieses Bild:
Ich habe aus oben genannten Gründen von der Benutzung des Rollis dringend abgeraten. Ein Hund mit Schmerzen und akutem Bandscheibenvorfall darf auf keinen Fall in einen Rolli! Er kann sich nicht hinsetzen oder hinlegen wenn es ihm zu viel wird. Zudem - soll der Hund wieder lernen zu laufen - sollten die wenigen Fenster der Aktivität auch zielgerichtet auf die Anbahnung von Bewegung ausgerichtet sein - und nicht der puren Auslastung. In der Zeit der Heilung ergeben sich außerdem meist die Anzeichen ob der Hund wieder laufen wird und wie schnell die Fortschritte sind. Dann kann man sich noch immer überlegen ob ein Rolli sinnvoll ist oder nicht.
In dem Fall von der Dackeline hatte sich das schon nach 2 Physioterminen (Stimulation der Nerven und anschließende Anbahnung von Bewegung im Unterwasserlaufband) und insgesamt 3 Tagen deutlich abgezeichnet:
Das bedeutet nicht, dass ein gelähmter Hund über Wochen und Monate mit Physiotherapie "gequält" werden soll, wenn er einfach keine Fortschritte macht - und ihm der Rolli aus falschem Ehrgeiz der Besitzer oder anderer beteiligter Personen verwehrt werden soll. Aber in der Anfangszeit ist dieses Vorgehen meiner Erfahrung nach am Besten.
Beispiel: Kippfensterkatze
Dieser Kater war an den Hinterbeinen vollständig gelähmt nach einem Kippfensterunfall. Hier läuft er bereits wieder. Man sieht am Anfang des Videos vor dem Loslaufen wie sein Rücken zuckt (Schmerzen) und er kurz überlegt ob er läuft. Bei einer Katze die gelähmt ist, hat man natürlich auch nochmal mehr das Gefühl sie zu quälen: Sie kommen nicht mehr auf den Kratzbaum sondern können sich nur noch ebenerdig aufhalten. Die Lebensqualität scheint enorm vermindert. Aber auch da lohnt es sich, nicht aufzugeben.
Ausnahme: Rolli zur Therapie
Es gibt natürlich auch Ausnahmen: Teilweise macht es tatsächlich Sinn einen Rolli oder ein Tragegeschirr in die Therapie einzubauen. Z.B.:
Da muss man tatsächlich abwägen. Aber bitte nie bei einem frischen/akuten Bandscheibenvorfall oder einem Wirbelsäulenbruch - und nur nach einer fundierten Abklärung.
Wenn das der Fall ist, braucht man ein paar Tipps und Tricks wie man den Alltag meistern kann. Gerne hier ein paar Hilfen und Kniffe:
1) Die Blase
Ja, wieder die Blase. Ich weiß. Aber das ist wirklich ein nicht zu unterschätzendes Problem. Man darf die Blase nicht vernachlässigen.
Je nachdem wo die Schädigung der Wirbelsäule liegt - ist die Blase auch auf unterschiedliche Weise betroffen. Die meisten Hunde sind spastisch gelähmt und haben somit Harnverhalten wie man sagt. Sie können den Urin nicht gezielt, absichtlich, also auf Wunsch abgeben. Irgendwann fangen sie an zu tropfen oder geben im Schwall Urin ab, weil die Blase dem Druck nicht mehr standhält. Und später ist vereinfacht gesagt "der Verschluss der Blase ermüdet" und der Hund scheint "undicht". Der Harnverhalt kann aber auch zum Rückstau in die Nieren führen, was akut lebensbedrohlich ist!
Ein schlaff gelähmter Hund hat auch eine schlaff gelähmte Blase. Aber auch hier kann es zu Blasenentzündungen kommen!
Wie soll man das also managen, wenn man einen tropfenden, stinkenden Hund hat, der dann auch noch ständig in Lebensgefahr ist?!!
Die gute Nachricht ist, dass die meisten Hunde tatsächlich spastisch gelähmt sind. Diese Hunde kann man durch Blasenmanagement "dicht" bekommen und gleichzeitig die Blasenentzündungen zum großen Teil vermeiden. Der Hund kann also tatsächlich wieder stubenrein werden und benötigt keine Windel. Emmi z.B. hält ca. 6 Stunden aus. Sie hat bei Ankunft ständig vor sich hin getropft, hat gestunken - nach nur 2 Wochen war sie bereits mehrere Stunden trocken - ohne nur einen Tropfen zu verlieren ! Ich habe sie seither auch nicht ein einziges Mal gebadet! Sie wurde von uns auf eine Art Marker trainiert und macht ihr Pipi somit fast auf Kommando. Das machen wir so oft bis die Blase komplett leer ist (Das wird selbstverständlich mit Druck auf die Blase überprüft)
Bitte gebt euren Hunden eine Chance!
2.) der Kot
Vollständig gelähmte Hunde können nicht absichtlich Kot abgeben, sondern sie verlieren ihn. Das ist natürlich auch nicht toll. Oft passiert es dann gerade, wenn es gar nicht passt - im Auto oder wenn der Postbote klingelt.
Gute Nachricht - auch das kann man sehr gut in den Griff bekommen!
3.) Wundmanagement
Das ist auch ein sehr wichtiges Thema. Ist der Hund gelähmt, zieht er sich auf dem Popo, den Knien, dem Bauch oder seitlich auf dem Boden umher. Je nach Untergrund führt das früher oder später zu offenen Stellen. Ganz oft gelenksnah (weil dort das Bein etwas dicker ist und somit eher Bodenkontakt hat). Das reicht von kleinen blutigen Stellen bis völlig wunden Oberschenkeln, wunde Geschlechtsteile und After. Besonders wenn die Hunde aus dem Auslandstierschutz kommen sind sie oft nicht ausreichend versorgt.
Emmi direkt nach Ankunft:
Die schlimmsten Wunden nach nur 1 Monat:
Jetzt nach 2 Monaten ist von den Verletzungen fast nichts mehr zu sehen. Über die meisten Stellen ist sogar bereits Fell gewachsen.
Wie kann ich Wunden vermeiden? Denn so weit wie bei Emmi sollte es am Besten gar nicht erst kommen!
4.) Sonstige Gefahren
5.) Überlastung der Vorderbeine
Die Vorderbeine sind beim Hund rein durch Weichteile (z.B. Muskeln) mit dem Rumpf verbunden, eine knöcherne Verbindung z.B. durch ein Schlüsselbein fehlt. Das hat auch einen Sinn, denn diese elastische Aufhängung des Vorderbeins dient dem elastischen Auffangen des Körpers beim Laufen. Die Hinterbeine sind der Motor.
Wenn man das so betrachtet, dann wird einem klar, dass die Vorderbeine eines gelähmten Hundes ob Rolli oder nicht - unter Über - und Fehlbelastung leiden. Die Vorderbeine müssen also nun auch die Funktion der Hinterbeine übernehmen und den Motor machen! Ein Hund der vor seinem Unfall problemlos 1,5 Stunden Gassi war und das vielleicht auch von seiner Kondition her leisten kann - sollte also trotzdem langsam neu auf - und umtrainiert werden. Denn die Vorderbeine des gelähmten Hundes sind ein hohes Gut, welches es zu schützen gilt!
Selbst beim nicht gelähmten Hund, kommt es häufig schon durch geringe Fehlbelastungen zu Schmerzen, Überlastungen und Arthrosen (gerne Zehengelenke) in den Vorderbeinen - Bei gelähmten Hunden ist dieses Risiko um ein vielfaches höher !
6.) Rolli
Der Hund sollte pro Tag nicht länger als 1-2 Stunden (verteilt) im Rolli sein. Warum so kurz? - der Rolli ist wirklich nur zum Spielen und Gassigehen - es gibt keine Rollis für eine Dauernutzung. Der Hund kann sich nicht setzen, nicht drehen, nicht wälzen, nicht legen.
Einen Rolli lässt man sich am Besten anpassen, entweder von einem Rollispezialisten oder von einem ausgebildeten Therapeuten. Ob der Rolli "von der Stange ist" oder maßgefertigt, spielt nicht so eine große Rolle wie:
Bitte gebt den Hunden eine Chance !
(Es gibt auch noch degenerative neurologische Erkrankungen, bei denen die Lähmung schleichend über mehrere Monate kommt - diese wird hier nicht explizit erwähnt. Hier macht natürlich ebenfalls ab einem gewissen Punkt ein Rolli Sinn.)
7.) Ist das Leben noch lebenswert?
Das kann ich natürlich nicht beantworten. Ich kann nur meine Erfahrungen schildern und teilen, was ich sehr gerne mache. Die meisten Hunde die gelähmt in meine Praxis kamen, haben wieder gelernt zu laufen. Aber in der Zeit in der sie gelähmt waren, haben sie weiter gefressen, sich gefreut und gespielt. Oft war es total schwierig sie ruhig zu halten weil sie so viel Lebensenergie hatten.
Wir Menschen übertragen Zukunftsängste gerne auf den Hund: Er wird nie wieder...... , das war sein letzer ..... , mit seinem Freund kann er auch nie wieder....
Aber Hunde wundern sich meist einfach nur warum sie so langsam sind und kommen sonst sehr schnell mit der neuen Situation klar. Wichtig ist einfach nur, dass abgeklärt wird ob der Hund Schmerzen hat und ihm in so einem Fall geholfen wird.
Ich hatte schon immer die Einstellung, dass ein Hund immer eine Chance verdient hat, auch wenn er nicht mehr laufen kann. Aber Emmi hat mir meine Ansicht auf das Ganze nochmal verändert. Sie ist zuversichtlich, sie ist absolut lebenslustig, sie galoppiert auf ihrem Popo durch die Wohnung, spielt, und macht alles was ein "normaler" Hund macht. Sie ist dabei weder traurig und depressiv - im Gegenteil. Sie liebt das Leben.
Jeder Hund hat meiner Meinung die Chance verdient wieder laufen zu lernen - wenn er das nicht mehr kann - hat er die Chance verdient sein Leben zu leben, wenn er das will.
8.) Euthanasie
Ein sehr schweres Thema. Ich finde aber, dass ich es trotzdem ganz kurz anschneiden muss.
Ein gelähmter Hund ist noch immer der Hund, der er war als er noch laufen konnte. Der Kopf, die Seele, das Gehirn, die Zuneigung und die Liebe die er entgegenbringt sind noch da. Er kann sich nur nicht mehr auf allen 4ren tragen. Die wenigsten Hunde haben ein Problem damit.
Natürlich gibt es auch berechtigte Gründe für Euthanasie! Ich bin sehr froh, dass wir bei unseren Hunden diese Möglichkeit haben.
Ich verurteile niemanden - möchte mich aber gerne anbieten zu helfen dem Hund eine Chance zu geben, wenn man das möchte. Ich stehe gerne mit Rat und Tat zur Seite!
(*Es gibt keine Garantie auf Vollständigkeit und Richtigkeit - Therapien bitte nur in Zusammenarbeit mit einer Person vom Fach und nach Rücksprache mit dem Tierarzt!)